Einführung

Florian Strob

Mit der Schließung des Bauhauses 1933 begann für Ludwig Hilberseimer (1885–1967) die Entstehungsgeschichte seines 1944 im amerikanischen Exil veröffentlichten Buches The New City. Principles of Planning. Viele seiner am Bauhaus vermittelten Lehrinhalte fanden Eingang in die Publikation. Noch 1964, drei Jahre vor seinem Tod, äußerte sich Hilberseimer auf die Frage, was er am Bauhaus unterrichtet habe, wie folgt: „After the Bauhaus was closed I wrote my book, The New City. This contains the things I was teaching at the Bauhaus.”[1] Bedenkt man, dass kein anderer Architekt länger in der Baulehre des Bauhauses tätig war als Hilberseimer, ist das bisherige Desinteresse für The New City innerhalb der Bauhaus- und Moderne-Forschung mindestens erstaunlich. Im Zuge der vorliegenden Edition wurde das gesamte Buch überhaupt zum ersten Mal ins Deutsche übertragen.[2]
 

I: Von der Hochhausstadt zur Mischbebauung

Nach dem Studium der Architektur in seiner Heimatstadt Karlsruhe, das Hilberseimer ohne Abschluss nach sechs Semestern beendete, folgten Jahre als praktizierender Architekt, nach kurzem Aufenthalt in Bremen ab 1911 in Berlin, hier zunächst im Büro von Heinz Lassen (1864–1953), danach im Büro für Zeppelinhallenbau in Berlin Staaken. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Weimarer Republik stand Hilberseimer im Kontakt mit den Avantgarden der jungen Demokratie, wurde früh Mitglied des Arbeitsrats für Kunst und der Novembergruppe, später auch der Architektenvereinigung Der Ring und des Deutschen Werkbunds. Als Redakteur der Sozialistischen Monatshefte widmete er sich der Kunsttheorie, schrieb daneben für Zeitschriften wie Der Einzige, Die Form, G und andere und fand über diese kunsttheoretischen Arbeiten ab etwa 1923 zurück zur Architektur und vor allem zu eigenen Überlegungen zum Städtebau.

Seine 1924 entstandenen Schemata zur Hochhausstadt, die er 1925 in dem Band Großstadtbauten im Aposs-Verlag von Kurt Schwitters (1887–1948) und dann 1927 in seinem Buch Großstadtarchitektur veröffentlichte, lassen sich als „call for an end to speculation, in both its economic and aesthetic modes“[3] lesen. In ihnen nimmt Hilberseimer die wirtschaftliche und bauliche Realität der kapitalistischen Stadt zum Ausgangspunkt einer radikalen Analyse und schlägt eine vertikale Lösung für die Probleme der bestehenden Großstadt vor.

Die Wirkung der Hochhausstadt setzte früh ein, sie schwankte zwischen überwiegender Ablehnung und Faszination der erkannten und dargestellten Schrecken der nun nach ihren eigenen Gesetzen geordneten Moderne.[4] Edgar Wedepohl (1894–1983) nannte Hilberseimers Hochhausstadt schon 1928 in einer Rezension zu Großstadtarchitektur eine Nekropole – eine Kritik, die Hilberseimer dann selbst 1963 in Entfaltung einer Planungsidee zur Charakterisierung seiner Arbeiten aus den 1920er-Jahren in Anspruch nahm, allerdings ohne Wedepohl zu zitieren.[5]

Die Hochhausstadt wirkt bis heute nach. So oft wie sie kritisiert und als negatives Zerrbild des modernen Städtebaus schlechthin hergenommen wurde, wurde diese Kritik an ihr wiederum in der Literatur zu Hilberseimer beschrieben. Gleichzeitig faszinieren die häufig als Entwürfe missverstandenen Schemata wieder und wieder neue Generationen an Architektinnen und Architekten. Doch die Reaktion auf die Hochhausstadt blieb auch für Hilberseimer nicht folgenlos. Wedepohls Rezension endet mit einer aus heutiger Sicht harschen, aber auch wegweisenden Kritik an Hilberseimers, auch hier fälschlich als „Stadtentwürfe“ bezeichneten Schemata, „in die kein Baum, keine Blume, kein Stück Natur einbezogen ist.“[6] Genau dieser heute vielleicht ökologisch zu nennende, naturräumliche Aspekt sollte in der Folge für Hilberseimers städtebauliche Theorien (sozusagen korrektiv) bestimmend werden.

1927 erschien neben Großstadtarchitektur auch der Band Internationale Neue Baukunst von ihm, zudem trat er mit einem eigenen Einfamilienhaus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung zusammen mit einigen der bekanntesten Namen der Moderne als bauender Architekt in die Öffentlichkeit. 1928 folgte mit Beton als Gestalter ein weiteres Buch und ein erster Gastkurs am Dessauer Bauhaus, dessen Baulehre er ab Februar 1929 leitete. Mit den Dessauer Jahren verschob sich der Fokus von der Metropole (Berlin) auf eine kleinere, aber damals stark wachsende Stadt (Dessau) und die Landschaft und Region um sie herum. Zu seinen Lehrinhalten am Bauhaus zählten, so belegen es die Blätter in den Nachlässen seiner Studierenden wie auch in seinem eigenen Nachlass: Studien zur Besonnung von Wohnräumen, Auswirkung rauchproduzierender Industrien auf die Lage von Wohngebieten, Siedlungsdichte, Flachbauten in L-Form, mehrgeschossige Mehrfamilienhäuser oder Apartmenthäuser (letztere für Alleinstehende oder Paare ohne Kinder), (Arbeiter-)Siedlungen und Schulen.

Das Konzept der Mischbebauung entwickelte Hilberseimer parallel zu seiner Lehre am Bauhaus und in Auseinandersetzung mit Ideen für Flachsiedlungen seines befreundeten Kollegen Hugo Häring (1882–1958).[7] Es sah die Mischung von mehrgeschossigen Zeilenbauten und eingeschossigen Einfamilienhäusern vor, wodurch auch eine soziale Durchmischung der Siedlung gewährleistet werden sollte. Hilberseimer formulierte dazu 1929: „Ob Hoch- oder Flachbau als Wohnweise zu wählen ist, ist eine der umstrittensten Fragen des Wohnungsbaus. Es ist falsch, diese Frage als ein Entweder-Oder zu stellen. Das Ziel muß sein, nach Möglichkeit jedem die Wahl seiner Wohnform freizustellen.“[8] Bei der Erweiterung der Siedlung Törten im Süden Dessaus, die von Walter Gropius (1883–1969) begonnen worden war und nun unter dem zweiten Direktor des Bauhauses, Hannes Meyer (1889–1954), fortgeführt werden sollte, kam Hilberseimers Konzeption der Mischbebauung zum Tragen.[9] Den fünf 1930 realisierten Laubenganghäusern in Törten sollten laut Plan weitere fünf Laubenganghäuser und 531 Flachbauten folgen; statt der L-förmigen Flachbauten wurden im Nationalsozialismus konventionelle Einfamillienhäuser mit Satteldach verwirklicht. Auch erste Ansätze zu seinem Konzept der Siedlungseinheit – oder settlement unit – gehen auf Hilberseimers Zeit am Bauhaus zurück.

Neben den typologischen Studien und städtebaulichen Arbeiten entstanden in den Jahren bis zur endgültigen Schließung des Bauhauses 1933 weitere Veröffentlichungen, darunter 1931 das Buch Hallenbauten, diverse Ausstellungsbeteiligungen und auch einige Architekturen, wie die Wohnanlage Süßer Grund in Berlin-Adlershof (1929–1930), das Haus Blumenthal in Berlin-Zehlendorf (1932) und das Wachsende Haus (1931) als Teil der von Martin Wagner (1885–1957) organisierten Ausstellung „Sonne, Luft und Haus für alle“.

In die Endphase des Bauhauses fallen Arbeiten im Unterricht Hilberseimers, die als dezidiert politisch links zu bezeichnen sind, obwohl Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969) als Direktor des Bauhauses dem Bürgermeister Dessaus zugesagt hatte, das Bauhaus unpolitisch zu führen.[10] Das Siedlungsprojekt für die Fichtenbreite in Dessau wurde von einem Kollektiv aus sieben Studierenden im Wintersemester 1931/32 bearbeitet. Drei Studierende fertigten eine städtebauliche Analyse Dessaus an, die zum einen unter Anleitung Hilberseimers und mit Unterstützung von Walter Gropius und Arthur Korn (1891–1978) auf dem CIAM-Kongress 1933 vorgestellt wurde. Als Hilberseimer die Studierenden für ihre Teilnahme an dem Kongress beriet, er selbst blieb dem Kongress fern, war das Bauhaus schon geschlossen worden. Als Bedingung für die Genehmigung zur Wiedereröffnung der Schule forderten die Nationalsozialisten unter anderem die Entlassung von Hilberseimer und Wassily Kandinsky (1866-1944), was das Kollegium des Bauhauses wie auch sein Direktor ablehnten.

2: Von der Schließung des Bauhauses zur Emigration

Es kann von einer zwölfjährigen Entstehungsphase ausgegangen werden, die umfassenden Niederschlag in der finalen Publikation The New City fand und daher im Folgenden skizziert wird. Nach der Schließung des Bauhauses war Hilberseimer weiter als Architekt mit eigenem Büro in Berlin tätig. Es entstanden bis zu seinem Exil 1938 die Häuser Fuchs in Berlin-Steglitz und für die Zelle GmbH am Rupenhorn (beide 1936), Planungen für Mietshäuser in Berlin, für die Berliner Universität und für eine Bebauung des Seeufers in Zürich. Einige dieser Projekte flossen in die mit „Gesellschaft und Städtebau“ betitelten frühen Versionen von The New City ein, bevor sie für die englischsprachige Publikation gestrichen wurden. Das Büro Hilberseimers wurde, inklusive noch laufender oder begonnener Projekte, 1938 von seinem ehemaligen Studenten Wils Ebert übernommen.

Im nationalsozialistischen Deutschland konnte der zuvor überaus produktive Autor Hilberseimer fast nichts mehr publizieren. Lediglich drei Artikel in der Zeitschrift Moderne Bauformen konnten für die Zeit zwischen 1933 und 1938 nachgewiesen werden. Vergleicht man diese Zahl mit den hunderten Beiträgen in den Jahren seit 1919, ist dies ein durchaus frappierender Befund.[11] 1935 erschien der Artikel „Raumdurchsonnung“ und 1936 dessen Fortsetzung „Raumdurchsonnung und Siedlungsdichtigkeit“. In beiden Artikeln verwendet Hilberseimer Studierendenblätter aus seinem Unterricht am Bauhaus zur Illustration seiner Untersuchung, ohne jedoch das Bauhaus zu erwähnen. Beide Artikel arbeitete er nach ihrem Erscheinen in das entstehende Manuskript ein, das nach weiteren Überarbeitungen und seiner Übersetzung als The New City veröffentlicht wurde. Der dritte Artikel, ebenfalls 1936 erschienen, war Teil einer Serie von Städteführern der Modernen Bauformen: „Ein Architekt besucht Berlin“.

Hilberseimer rezipierte aber auch die städtebauliche Diskussion in Deutschland bis 1938, wie entsprechende Publikationen in seinem Nachlass belegen.[12] Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende des Nationalsozialismus war sich Hilberseimer jedoch sicher, dass er, wäre er in Deutschland geblieben, den Nationalsozialismus nicht überlebt hätte, wie er an Häring am 14. März 1947 schrieb: „Es war in Deutschland fürchterlich, als ich noch da war […]. Ich bin sicher, wenn ich nicht gegangen wäre, würde ich nicht mehr leben.“[13]

Trotz der nationalsozialistischen Realität bestanden seine beruflichen und politisch häufig eher links geprägten Netzwerke aus der Zeit vor 1933 weiter. Von besonderer und bislang kaum bekannter Bedeutung ist die deutsche Gruppe des CIAM. Auf der Delegiertenversammlung vom 20. Mai 1934 im Royal Institute of British Architects in London sprach Gropius für die deutsche Sektion. Das Protokoll der polnischen Architektin Helena Syrkus (1900–1982), das sich wie viele, auch interne, Papiere des CIAM, in Hilberseimers Nachlass befindet, hält zur Arbeit in der deutschen Landesgruppe fest: „Deutschland-Gropius: Bautätigkeit sehr beschränkt, daher Möglichkeit theoretische Arbeit sich zu widmen. (Herausgabe einer allgemeinen Städtebaufibel wird vorbereitet.) Zusammenkünfte: diskussionsabende jeden freitag.“[14]

1934 emigrierte Gropius nach England, die Leitung der deutschen Sektion übertrug er in seiner Abwesenheit Hilberseimer, genauso wie die Herausgabe der im Londoner Protokoll erwähnten Städtebaufibel.[15] Am 6. Januar 1935 schrieb er aus London an Hilberseimer: „je mehr ich hier die dinge von aussen ansehe, umso mehr werde ich in meinem empfinden bestärkt, dass unser kongress mit allen denkbaren mitteln gestützt und gefördert werden sollte. Und darum bitte ich sie sehr, doch ihrerseits möglichst viel aktivität zu entwickeln, um aus der deutschen gruppe mehr wie bisher zu machen. […] es wäre aussordentlich wichtig, wenn schon gewisse ergebnisse unserer fibel in amsterdam [9.–13. Juni 1935] gezeigt werden könnten, zumal andere gruppen sehr ernsthaft gearbeitet haben.“ In einer Postkarte vom 16. Oktober 1935 fragt Gropius Hilberseimer: „Was macht die fibel???“[16] Und noch in einem Brief vom 31. Januar 1937 möchte Gropius von Hilberseimer wissen, „ob die fibel in irgend ein sachlicheres stadium getreten ist“.[17]

Tatsächlich traf sich eine Gruppe befreundeter Architekten freitags in Hilberseimers Büro in der Emserstraße 14 in Berlin-Wilmersdorf, wie auch Briefe und Postkarten im Nachlass von Hilberseimer belegen. Markus Kilian, der mit seiner Dissertation an der Universität Karlsruhe 2002 Hilberseimer in Deutschland wieder in Erinnerung rief, beschreibt diese Freitagsgruppe auf der Grundlage von Erinnerungen des ehemaligen Bauhäuslers Hubert Hoffmann (1904–1999) wie folgt: „Zusammen mit ehemaligen Studenten des Bauhaus organisierten Architekten des ‚Ring‘ eine konspirative Runde, die auch externe, emigrierte Kollegen einband. Zu ihnen gehörten Max Cetto, Peter Friedrich, Eugen Blank, Gustav Hassenpflug, Walter Gropius, Athur Korn, Hugo Häring, Hubert Hoffmann, die Luckardt Brüder, Adolf Rading, Mies van der Rohe, Martin Wagner und Hans Scharoun. Diese ‚Freitagsgruppe‘, deren Namen auf das wöchentliche Treffen und das Wort frei verweist, wurde von Hilberseimer bis etwa 1937 in seinem Büro in Berlin geleitet, mit dem Ziel geistigen Widerstand zu leisten und zu verbreiten. In diesem Kontext entstanden Siedlungsstudien zu Dessau, die die Basis für die ‚New City‘ Hilberseimers bildeten. Parallel arbeitete er das Manuskript ‚Gesellschaft und Städtebau‘ als geschichtliche und theoretische Grundlage für die späteren Projekte in den USA aus.“[18]

Diverse Dokumente, darunter mindestens drei Versionen einer Struktur bzw. eines Inhaltsverzeichnisses für besagte Städtebaufibel des deutschen CIAM, finden sich noch heute in Hilberseimers Nachlass in Chicago. Vermerkt sind dort auch die Namen der vorgesehenen Autoren für die einzelnen Kapitel; auffällig ist durchaus, wie prominent der Name Hilberseimer vertreten ist. Die erste Version sah drei Hauptteile für die Fibel vor: „Die Stadt der Vergangenheit“, „Die Stadt der Gegenwart“ und „Die Stadt der Zukunft“. Die zweite Version verfügte über vier Hauptkapitel mit jeweils unterschiedlich vielen Unterkapiteln:

„I. Städtebildende und städtezerstörende Kräfte“, beide Unterkapitel dazu sollten von Hilberseimer bearbeitet werden;

„II. Die Stadt der Bedarfswirtschaft auf landwirtschaftlich-handwerklicher Grundlage“, hier waren Hoffmann und Wassili Luckhardt (1889–1972) gefragt;

„III. Die Stadt der freien Wirtschaft“, mit den Autoren Hans Luckhardt (1890–1954), Korn, Peter Friedrich (1902–1987), Gustav Hassenpflug (1907–1977), Wagner und Wolfgang Bangert (1901–1973);

„IV. Die Stadt der Bedarfswirtschaft auf landwirtschaftlich-industrieller Grundlage“, Wagner, Hans Scharoun (1893–1972), der Mediziner Paul Vogler (1899–1969), Gropius und Wils Ebert (1909–1979) sollten zu Wort kommen.

Die dritte Version der Struktur trägt den Titel „Hauptteile der Städtebaufibel“, datiert auf den 19. Juli 1934 (Einf. 8). Die Autorenzusammensetzung hat sich im Vergleich zur zweiten Version leicht verändert, doch wieder ist vorgesehen, dass Hilberseimer den Band zum Thema „Der Mensch wird sesshaft“ eröffnet und dieses Mal auch beschließt, zusammen mit „Matern“, wohl der Landschaftsarchitekt Hermann Mattern (1902–1971): „Verbindung von Industrie und Landwirtsch. bes. Gartenb. Die agro-industrielle Stadt – Stadt Land Einheit – Industrieaussiedlung“.

Die zitierte Liste von Teilnehmern der Freitagsgruppe könnte demnach um einige Namen ergänzt werden oder überschnitt sich nicht zu hundert Prozent mit den Autoren der geplanten Fibel. Obwohl die Städtebaufibel der deutschen CIAM-Sektion nie erschienen ist, haben sich im Nachlass Hilberseimers einige Vorarbeiten verschiedener Autoren erhalten bzw. Arbeiten der genannten Autoren, die diesem Projekt mit einiger Wahrscheinlichkeit zuzurechnen sind, darunter mehrere längere Texte von Friedrich, auf die sich Hilberseimer dann explizit in The New City bezieht.[19] Der „geistige Widerstand“ der Freitagsgruppe, wie er von Kilian recht pauschal und auf Grundlage der nie veröffentlichten Erinnerungen Hoffmanns angenommen wurde, ist um einige Schattierungen zu ergänzen. Hoffmann und Wilhelm Jakob Hess (1906–1982), die an der CIAM-Analyse von Dessau 1933 beteiligt waren, machten als Architekten und Stadtplaner auch im Nationalsozialismus Karriere, so übrigens ebenfalls Bangert und Mattern.

Hilberseimer schrieb, nach eigener Auskunft, zur Zeit der Freitagsgruppe schon an dem Text, der anfangs mit „Gesellschaft und Städtebau“ betitelt war und heute noch in mindestens vier Versionen vorliegt und erst in den USA zu The New City wurde. Unter der Archivsignatur 8/3, 1.7 finden sich im Chicagoer Nachlass Hilberseimers zwei Varianten der ersten überlieferten Version von „Gesellschaft und Städtebau“, die erste mit 100 paginierten, die zweite mit 75 nicht paginierten Seiten und feinerer Gliederung. Thematisch entspricht diese erste Version zum einen Teil a) der geplanten Städtebaufibel vom 19. Juli 1934 „Was findet der Mensch, was macht er daraus und wie ernährt er sich. Entstehung und Verfall von Ansiedlungen und Städten.“ Zum anderen entspricht dieser historische, einleitende Teil – „Die Stadt der Vergangenheit“ (so noch im ersten Inhaltsverzeichnis der Städtebaufibel) – in weitem Umfang dem ersten Kapitel von The New City: „Society and Cities“. Ohne dass hier ein genauerer Abgleich oder weitere Untersuchungen zu leisten sind, kann konstatiert werden, dass The New City genauso aus der Arbeit des CIAM hervorgegangen ist wie aus der Lehre Hilberseimers am Bauhaus. The New City steht nicht nur zeitlich in einem engeren Kontext mit Josep Lluís Serts (1902–1983) Can our Cities Survive? An ABC of Urban Problems, Their Analysis, Their Solutions (1942) und Le Corbusiers (1887–1965) La Charte d’Athènes (1943). Die drei Bücher von Sert, Le Corbusier und Hilberseimer gehen (in unterschiedlichem Maße) von den Diskussionen um die funktionelle Stadt und den CIAM-Kongressen 1933 und 1937 aus. Hilberseimer und The New City wurden jedoch bislang kaum in die wissenschaftliche Betrachtung des CIAM einbezogen.

Vom 3. bis zum 13. August 1956 tagte der CIAM in Dubrovnik. Gropius schrieb eine Postkarte an Hilberseimer, die auf der Vorderseite eine Ansicht Dubrovniks „nach dem grossen Erdbeben“ zeigt. Gropius vermerkte auf der Ansicht „der kongressrunde!“ und auf der Rückseite: „die stadt ist jetzt noch schöner als auf dem alten plan, sie begeistert mich täglich mehr durch ihr maß, alles ist hier richtig, klarstes schema aber das schema ist auf schritt und tritt in menschliche varianten abgebogen. wo wird die geburt einer neuen stadt dieser vollendung stattfinden? ihr gropius“. Auch von Ebert und Hoffmann erreichte Hilberseimer 1956 Post aus dem kroatischen Dubrovnik.

Kroatien wird in The New City gleich mehrfach erwähnt; die Städte Dubrovnik, Korčula und Šibenik sind als städtebauliche Beispiele illustriert. Hilberseimer kannte das Land auch von eigenen Reisen. Am Bauhaus hatte er, zu dem Zeitpunkt noch verheiratet, aber von seiner Frau getrennt lebend, die Weberin Otti Berger (1898–1944) kennengelernt, die aus dem heutigen östlichen Kroatien (seit 1918 Jugoslawien) stammte. Gemeinsam reisten sie in den 1930er-Jahren mehrfach nach Jugoslawien, zuletzt im Sommer 1938 kurz vor ihrer geplanten gemeinsamen Ausreise in die USA. Seinem Reisepass lässt sich entnehmen, dass er in diesen Jahren außerdem nach Frankreich, in die Schweiz (Zürich) und England fuhr. Doch nur aus dem damaligen Jugoslawien haben sich Urlaubsfotos im Nachlass erhalten. Zwischen diesen Urlaubsfotografien vom Meer und der Küste stehen im Nachlass einige Bilder der Stadt Split; zu sehen sind der Jupitertempel und das Vestibül, Überreste des Palastes von Kaiser Diokletian, in dessen Mauern sich die Altstadt von Split über die Jahrhunderte eingerichtet hatte. Die Bilder sprechen von einem Geschichtsbewusstein und einem ausgeprägten Verständnis von der Geschichtlichkeit des Urbanen, das dem Vorwurf der Geschichtslosigkeit der Hilberseimer’schen Städtebautheorie widerspricht.[20] The New City schöpft aus einem geschichtlichen Reichtum, die Bandbreite an zu Rate gezogener wissenschaftlicher Literatur, besonders zur antiken Geschichte, ist groß. Die privaten Fotografien aus Split ergänzen posthum die Beispiele Dubrovnik, Korčula und Šibenik in The New City und grundieren sie lebenswirklich.

Auf dem gemeinsamen Weg in die USA, für den sie einige Tage Zwischenstation in England machten, kehrte Otti Berger ungeplant nach Jugoslawien zu ihren Eltern zurück. In England hatte sie die Nachricht von ihrem kranken Vater erreicht, die sie zu diesem Schritt bewog. Hilberseimer reiste allein mit dem Schiff weiter und erreichte New York am 28. August 1938. Mit ihm reisten viel Papier, Bücher, Manuskripte und Zeichnungen, die Arbeit seines bisherigen Lebens. Aus den USA heraus versuchte Hilberseimer mit Hilfe von Gropius und anderen Otti Berger noch aus Europa zu retten. Briefe dieser versuchten Rettung haben sich in verschiedenen Archiven erhalten, ebenso wie die Briefe, die Hilberseimer aus Jugoslawien erreichten.

Otti Berger wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Ihr jüngerer Bruder, das einzige Mitglied der jüdischen Familie Berger, das die Shoah überlebt hatte, schrieb 1945 wieder an Hilberseimer. Jemand hatte für ihn einen englischsprachigen Brief verfasst, in ihm berichtete er vom Tod Otti Bergers.[21] Auch diese private und erschütternde, traurige Geschichte fällt in die Entstehungszeit von The New City, selbst wenn sie über die Beispiele Dubrovnik, Korčula und Šibenik hinaus keinen sichtbaren Eingang in den Text gefunden hat. Es deutet sich aber an, welchem Hintergrund und bedrohlichem Alltag die prinzipiellen und weit in die Geschichte ausgreifenden Seiten von The New City abgerungen sind. Plácido González Martinez hat mit In Light of Hilberseimer. The Genesis and Legacy of The New City den Versuch unternommen, durch die Einbeziehung des Biografischen das Menschliche und dem Leben Zugewandte des oft als inhuman wahrgenommenen Werks von Hilberseimer aufzuzeigen.

3: Von der Ankunft in Chicago zur Fertigstellung von The New City

Als Ludwig Hilberseimer 1938 nach Chicago zog, sprach er kein Englisch.[22] Man sollte meinen, dass einem Architekten nicht das Handwerkszeug genommen werden kann, wenn die Möglichkeit der sprachschriftlichen Verständigung wegbricht. Doch genau das geschah im Fall von Hilberseimer, der Autor mehrerer hundert Artikel, Aufsätze und fünf deutschsprachiger Bücher war.[23] Er hatte ein Manuskript mit dem Titel „Gesellschaft und Städtebau“ bei sich, das über sechs Jahre hinweg größtenteils in Nazi-Deutschland entstanden war, und verbrachte die folgenden sechs Jahre damit, diesen Text ins Englische zu übersetzen und zu überarbeiten. Ein Großteil des durch Fußnoten, Hinweise im Text und ein Literaturverzeichnis sichtbaren Kontexts ging dabei verloren, andere Zusammenhänge wurden aufgenommen.

Die sechs Jahre des Übersetzens und Überarbeitens waren durch verschiedene Arbeitsbeziehungen geprägt. Im Hilberseimer-Archiv in Chicago befinden sich 19 Briefe seines Übersetzers Siegfried Risch (1907–1995) aus den Jahren 1939 bis 1941 und 1946.[24] Es konnte bislang nicht ermittelt werden, wie Hilberseimer und Risch sich kennenlernten.

In den Briefen von Autor und Übersetzer wird der Architekt als Schriftsteller wahrgenommen und ein multilingualer Raum zwischen deutschen und französischen Referenzen des 19. Jahrhunderts und der amerikanischen Gegenwart entworfen, in der Risch und Hilberseimer lebten. In diesem globalisierten Raum des Exils arbeiteten Risch und Hilberseimer gemeinsam an dem, was The New City werden sollte. Aus den Briefen zwischen den beiden erfahren wir, dass Hilberseimer Risch 1939, 1940 und wahrscheinlich auch 1941 an der Ostküste der USA besuchte, um an der Übersetzung zu arbeiten und Englischunterricht zu nehmen. Risch verweist auf Hilberseimers Bedürfnis nach ruhigen und grünen Straßen und der Natur, auf seine Abneigung gegen die Stadt, „dislike of the city“ (11. Juli 1940). Im Laufe der Arbeit zieht Risch aus der Stadt in ein Haus mit Garten und Blick auf einen Baum (6. November 1940). Wie Vögel, insbesondere Kolibris (4. November 1939 und 6. November 1940), sind dieser Baum und der Blick auf Bäume oder von Bäumen gesäumte Straßen wiederkehrende Themen in der Korrespondenz von Autor und Übersetzer – ebenso wie die Probleme der Übersetzung von Hilberseimers deutschem Text ins Englische.

Autor und Übersetzer waren mit dem Ergebnis ihrer Arbeit unzufrieden, beide hatten andere gebeten, die Übersetzung zu überprüfen. Zwischen Dokumenten zu Hilberseimers Income Tax Return Forms liegt ein kurzer Brief von Risch, datiert auf den 23. August 1941: „Dear Mr. Hilberseimer: We have agreed that the price of the translation of your book about city planning is $500.00. Of this sum the share dues me is $250.00, which amount I have received from you in full. / I should like to have my name mentioned as co-translator, but I understand that it is up to you to decide whether that is advisable or not.” Da Hilberseimer seine Drohung, The New City von jemand anderem neu übersetzen zu lassen, offenbar nicht wahrgemacht hat, verdankt sich das Buch, so wie wir es heute kennen, höchstwahrscheinlich der gemeinsamen Übersetzungsarbeit von Hilberseimer und Risch. Grundsätzlich gewinnt der Text von The New City im Englischen eine gewisse Ruhe, größere Sachlichkeit oder Sanftheit im Sprachlichen. Als Stilmittel verzichtet Hilberseimer, anders als noch im Deutschen, etwa auf die häufigen Ausrufezeichen.[25] Mehrere Korrekturphasen schlossen sich an die Arbeit mit Risch an, liefen teilweise parallel mit der Übersetzung, hierfür hatte Hilberseimer weitere Personen aus seinem Umfeld verpflichtet; auch aufgrund dieser weiteren Arbeit am Text wird Hilberseimer auf die Nennung eines Übersetzers verzichtet haben.

Die Natur und die Bedeutung von Bäumen für das Leben im Allgemeinen und die Stadtplanung im Besonderen ziehen sich wie ein roter Faden durch den Schreib- und Übersetzungsprozess von The New City. Es gibt eine versteckte ökologische Hintergrundgeschichte, die im Archiv zu finden ist. Für die Übersetzungsmanuskripte verwendete Risch Papier mit Listen von Laubbäumen; die Herkunft der Listen ist unbekannt. So stehen Bäume hinter vielen Seiten der Übersetzung. Wenige private oder Urlaubsfotos sind im Nachlass von Hilberseimer überliefert, zu den wenigen gehört eine ganze Reihe an Fotos von der amerikanischen Ostküste, zu sehen sind lauter Bäume. Es ist nicht auszuschließen, dass die Aufnahmen auf Hilberseimers Aufenthalte an der Ostküste 1939 bis 1941 zurückgehen.

In seinem Bemühen, „Gesellschaft und Städtebau“ mit Hilfe eines unerfahrenen Übersetzers zu übertragen, wandte sich Hilberseimer an mehrere, alte Bekannte, um Unterstützung zu erhalten, einer der für die Arbeit wichtigsten Unterstützer war der ehemalige Bauhaus-Schüler Howard Dearstyne (1903–1979).[26] Neben der Unterstützung Dearstynes ist auch die Lehre am Armour Institute, später Illinois Institute of Technology, in die Arbeit an The New City eingeflossen. Davon zeugen sowohl die vielen Projekte für nordamerikanische Städte (allen voran Chicago, aber auch Kenosha oder Montreal in Kanada), als auch die Einbindung einiger Studierender in die Arbeit am entstehenden Buch. Zu nennen ist hier vor allem der Landschaftsarchitekt Alfred Caldwell (1903–1998), mit dem sich eine besonders ertragreiche Zusammenarbeit entwickelte, die weit über die Lehre und das Buch hinausging und schließlich in das mit Mies van der Rohe zu dritt verwirklichte Siedlungsprojekt Lafayette Park in Detroit (1956–1963) mündete.

Mit einem Schreiben vom 11. Oktober 1939 stellte sich Caldwell bei Hilberseimer vor.[27] Caldwell war damals schon 36 Jahre alt, ehemaliger Schüler und Mitarbeiter des dänisch-amerikanischen Landschaftsarchitekten Jens Jensen (1860–1951) und Architekt mehrerer realisierter Projekte, wozu auch sein bis heute vielleicht bekanntestes, der Lilly Pool im Chicagoer Lincoln Park zählt. „Meanwhile I am interested in other things. The chance to study is one; to do some creative work however I may; to persist in quiet quarrel with the bourgeoisie fallacy of assassinating life and the landscape. / The mining and the oil drilling of Western Civilization is eating the earth from inside and so it may some day be as empty of available resources as a sucked orange. […] Our forests have been cut down and a third of the top soil of the nation washed to the sea. Ancient turf of the arid plains has been spat upon for being what it was, and its soil plowed into the sky. Great representative plant and animal groups have been exterminated and alien species introduced, the ecology of the region with its deep cultural overtones not even considered.“

Mit seiner Urbanitätskritik, die auch in Europa seit dem späten 19. Jahrhundert verbreitet war, dürfte Caldwell, metaphorisch gesprochen, bei Hilberseimer offene Türen eingerannt haben. Der als kalte Technokrat der Städte verschriene Hilberseimer war kein Freund der Städte, jedenfalls nicht der bestehenden Städte. Längst hatte er begonnen, neben der Gartenstadtidee auch unter dem Einfluss in Europa rezipierter amerikanischer Schriften und Beispiele, die Verschränkung von Stadt und Landschaft zu propagieren.[28] Hilberseimer zitiert zwar einerseits Henry Fords (1863–1947) Autobiografie und erkennt die Möglichkeiten des Automobils als Teil seiner Überlegungen an. Gleichzeitig sieht er ebenso die tödlichen Nachteile des Autoverkehrs und ist vehementer Gegner dieser Form des Individualverkehrs, seine ist nicht die autogerechte Stadt, sondern die Stadt des Menschen und mehr und mehr auch der Natur, der Vegetation, die zur ersten visuellen Ebene wird, hinter der die Architektur zurücktritt.[29] Zwischen den Seiten des Typoskripts der Übersetzung von „Gesellschaft und Städtebau“ liegt ein säuberlich ausgeschnittener kurzer Text aus einer nicht identifizierten Zeitung, der Text trägt den Titel „Keep us out – of streets“ und berichtet von der hohen Zahl an Unfallopfern im Autoverkehr der USA.[30]

Nicht nur schuf Caldwell in Rücksprache mit und für Hilberseimer einige der ikonischen Zeichnungen in The New City, etwa „View of a Commercial Area“ (Abb. 92), 1942 fertigte er nach Skizzen und Ideen Hilberseimers die wohl nie realisierten Entwürfe eines Hauses für Siegfried Risch an.

Die Landschaft und mit ihr die Natur, verkörpert durch Bäume, sind, das kann hier noch einmal betont werden, als Leitmotive von The New City auszumachen, sowohl in der publizierten Fassung und erst Recht bei einem Blick ins Archiv und auf die Entstehungsgeschichte des Buches. Ein letztes, programmatisches Beispiel macht dies überdeutlich. Der von dem Grafiker William Fleming (Lebensdaten unbekannt) gestaltete Schutzumschlag zeigt Hilberseimers Neuplanung Chicagos in Schwarzweiß und rot darüber eine archäologische Karte Glastonburys in England. Es ist ein ikonisches Coverdesign, das klar den überzeitlichen, prinzipiellen Anspruch Hilberseimers verdeutlicht. Doch der Autor selbst hatte sich eigentlich ein anderes Cover gewünscht. Aus Unterlagen des Verlegers Paul Theobald lässt sich demnach entnehmen, dass Hilberseimer ursprünglich die Fotografie eines Ahornbaums mit einem Stadtplan zu überlagern plante. Er hatte die Fotografie des Ahorns im Magazin Life 1943 entdeckt. Sie stammt von dem Fotografen und Autor Ruthford Platt (1894–1975), der sich auf amerikanische Bäume spezialisierte und in zahlreichen Publikationen veröffentlichte.[31]

Wer das Titelbild in seiner Entstehung und seinen Kontexten betrachtet, sollte den Titel nicht vergessen, auch dieser hatte mehrere Varianten, bis Hilberseimer letztlich The New City. Principles of Planning wählte. Die neue Stadt, in deutscher Übersetzung, macht deutlich, wie fast schon generisch der gewählte Titel klingt. Er passt zum typologischen Verständnis seiner Arbeit und zum Pathos der Moderne. Hilberseimer war nicht der einzige, der exakt diesen Titel, der auf das Neue Bauen anzuspielen scheint, verwendete. So gab der Schweizer Kunsthistoriker Joseph Gantner (1896–1988) die neue stadt heraus. Sie erschien 1932 bis 1934 mit dem Titelzusatz Internationale Monatsschrift für architektonische Planung und städtische Kultur als Fortführung der Zeitschrift Das neue Frankfurt. In Hilberseimers Nachlass sind einige Ausgaben der Zeitschrift erhalten. Aus Gantners Habilitationsschrift Grundformen der europäischen Stadt (1928) entnahm Hilberseimer eine ganze Reihe von Bildern und Anregungen für The New City. Von Martin Mächler (1881–1958) hatte Hilberseimer aus Genf 1938 noch vor seiner Emigration einen zweiseitigen Bericht zur internationalen Städtebauausstellung „Die Neue Stadt“ erhalten. Auch dies ist ein weiterer Bezugspunkt für die Titelwahl. In Hilberseimers Nachlass ist außerdem die Vorankündigung zu Gottfried Feders (1883–1941) Buch Die neue Stadt – Versuch der Begründung einer neuen Stadtplanungskunst aus der sozialen Struktur der Bevölkerung (1939) überliefert. Hier wurde von Hilberseimer, soweit ersichtlich, nichts entnommen. Feder, ein Nationalsozialist der ersten Stunde und überzeugter Antisemit, war Verfasser diverser Hetzschriften. Wolfgang Bangert (1901–1973), deutsches CIAM-Mitglied und potentieller Co-Autor der oben erwähnten Städtebaufibel, hatte 1936 bei Feder promoviert.

4: Das Erscheinen von The New City

Das Erscheinen von The New City wurde im Art Institute of Chicago durch eine Ausstellung (10. Oktober bis 19. Dezember 1944) und eine Vortragsreihe mit dem Titel The City. Organism and Artifact begleitet. Während die Ausstellung von Hilberseimer und Caldwell zusammengestellt wurde und weitgehend auf das Bildmaterial von The New City zurückgriff, wurde die Vortragsreihe anders als zunächst vorgesehen nicht maßgeblich von Mies van der Rohe, sondern von dem Soziologen Louis Wirth (1897–1952) bestimmt. Hilberseimer trug zusammen mit Caldwell den Vortrag „Design to Fit the Human Spirit: the Evolution of City Plans” am 7. November 1944 bei. Colman kommt zu dem Schluss, dass nach der dreimonatigen Ausstellung in einem zentralen Raum des Art Institute of Chicago Hilberseimers Planungsprinzipien zwar effektvoll einem größeren Publikum vorgestellt wurden: „Yet that presentation precipitated events ultimately detrimental to his cause. The conversations between architects and social scientists central to American debates about postwar planning resulted in the selective differentiation and adaptation of modern architecture given the hegemony of a social scientific approach. Hilberseimer’s planning proved unpalatable to the US planning establishment.”[32] Die Auslieferung der Bücher begann gegen Ende der Ausstellung Mitte Dezember 1944. Vergleicht man die im selben Zeitraum erschienen Bücher zur modernen Stadt, etwa von Frank Lloyd Wright (1867–1959), war The New City schon vom Preis her ($5,95) und dank der Ausstattung in gewisser Hinsicht auch ein Katalog; mehrfach wurde in Rezensionen auf die reiche Bebilderung hingewiesen.[33]

The New City hat ihren entscheidenden Ausgangspunkt in Hilberseimers Lehre am Bauhaus, aber geht doch darüber hinaus, findet sich angereichert von diversen anderen Kontexten und Gesprächen. Die Publikation erschien 1944 – in dem Jahr, in dem Hilberseimer US-amerikanischer Staatsbürger wurde, und in einem Jahr des Zweiten Weltkriegs, in dem viele der alten, europäischen Städte zerstört wurden.

Von heute aus, beinah 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung von The New City, ergibt sich ein überraschender Blick zurück auf eine zentrale städtebauliche Position der Moderne: statt der autogerechten Stadt die menschengerechte Stadt eines leidenschaftlichen Fußgängers, der Hilberseimer war; statt der betonierten, asphaltierten, in jedem Fall aber versiegelten Stadtwüste Parks und Gärten einer Stadt in der Landschaft, die auf ökologisch und wirtschaftlich nachhaltige Weise in ihre Umgebung integriert wurde; statt der strikten Funktionstrennung Siedlungseinheiten, die die verschiedenen Funktionen auf sinnvolle Weise miteinander verbindet und so dazu führt, dass die wichtigsten Funktionen des Alltags innerhalb von fünfzehn Minuten Fußweg zu erreichen sind, während nur störende Sonderfunktionen wie raucherzeugende Industrie außerhalb der Siedlungseinheit Platz finden; statt einer angeblich geschichtsvergessenen Moderne eine historisch argumentierende und die Historie der Städte würdigende Hinleitung zur modernen, ihrer Zeit angemessenen Stadtplanung.

 


[1] Ein als Kopie gekennzeichnetes Dokument, das handschriftlich betitelt ist: „Hilbs‘ answers to questions posed by Miss Whitney Wing, Columbia student – June 4, 1964“. Hilberseimer Papers. 4/4, 5.28.

[2] Ludwig Hilberseimer: Die neue Stadt. Prinzipien der Planung. Kommentierte Ausgabe, hrsg. von Florian Strob und Karoline Lemke, übersetzt von Uli Nickel. Leipzig 2023. Die Einführung der gedruckten Ausgabe erscheint digital in wesentlich gekürzter und überarbeiteter Form.

[3] Anderson 2012, S. 26.

[4] Vgl. Anderson 2012, S. 80-81.

[5] Vgl. Vallye 2022, S. 178.

[6] Wedepohl 1928, S. 161.

[7] Oswalt 2021, S. 156.

[8] Hilberseimer 1929, S. 511.

[9] Wie sehr Hilberseimers Konzeption Teil auch seiner Lehre am Bauhaus war, beweist nicht zuletzt der Umstand, dass sein Student Hubert Hoffmann zwei eigene Artikel zur Mischbebauung veröffentlichte. Vgl. Oswalt 2021, S. 157.

[10] Vgl. Droste 2022.

[11] Markus Kilian hat die bis heute ausführlichste Bibliografie zu Hilberseimers Schaffen als Autor vorgelegt. Vgl. Kilian 2002.

[12] Vgl. z. B. Wolf 1935, Dencker 1935 und Paulsen 1938. Hilberseimer Papers. 9/2, 8.32; 9/2, 8.2; 9/2, 7.28.

[13] Hilberseimer Papers. 2/1, 1.17 (Briefentwurf).

[14] S. 2 und S. 1 des Protokolls von Helena Syrkus. Im Protokoll wird außerdem auf einen Regionalplan für Warschau der polnischen Gruppe als vorbildlich für den gesamten CIAM hingewiesen. Hier steht die Untersuchung einer möglichen Anregung für Hilberseimers eigene regionalplanerische Studien, insbesondere auch seinen späteren eigenen Plan für die Region Warschau, noch aus. Hilberseimer Papers. 4/1, 1.40.

[15] Ich danke Magdalena Droste für anregende Gespräche zum Briefwechsel Gropius/Hilberseimer und Einblicke in ihre eigenen Forschungen zum Thema. Vgl. Droste 2022.

[16] Hilberseimer Papers. 4/2, 2.53.

[17] Hilberseimer, Ludwig. 5 letters from; 1937-1951. Walter Gropius Papers, MS Ger 208, (882), Box: 23. Houghton Library, Harvard University. Ich danke Magdalena Droste für den Hinweis auf diesen Brief.

[18] Kilian 2002, S. 9.

[19] Hilberseimer Papers. 4/2, 2.39, 2.41, 2.42.

[20] Vgl. etwa die Aussage: „[…] Ludwig Hilberseimer and Gropius also failed to show any trace of interest in the history of the city.” (Rossem 2015, S. 43.)

[21] Hilberseimer Papers. I, 2.43.

[22] Einige der folgenden Argumente und Ausführungen, hier in überarbeiteter Form, finden sich bereits in meinem Aufsatz Strob 2022.

[23] In einer „Personal Information Form“ gibt Hilberseimer 1959 unter „Field of Specialization“ an: „City & Regional Planner & Writer“. Hilberseimer Papers. I, 3.5.

[24] Die Korrespondenz zwischen Hilberseimer und Risch ist zu finden unter: Hilberseimer Papers. 2/1, 1.3-1.8, 1.14 und I, 1.21 (Income Tax Return Forms).

[25] Vgl. zum Beispiel Sätze wie: „Es scheint unglaubhaft, dass über der Vierung von St. Peter das Pantheon schwebt!“ (GS4, S. 194.) Oder: „Ganz anders Melk an der Donau!“ (GS4, S. 194-195.)

[26] Hilberseimer Papers. 2/1, 5.13.

[27] Die folgenden Zitate sind entnommen: Hilberseimer Papers. 4/2, 2.5.

[28] Winfried Nerdinger bezeichnete „die alte Gartenstadt-Idee“ jenseits der politischen Prägungen der Planer als „dauerhafteste und adaptionsfähigste Architektur-Utopie im 20. Jahrhundert“ (Nerdinger 2003, S. 286). Kilian weist auf ein Blatt hin, das er auf die späten 1930er Jahre datiert, und das mit „Die neue Stadt: die Großstadt als Gartenstadt“ überschrieben ist. Vgl. Kilian 2002, S. 114, Abb. 55. Gleichzeitig ist hier der grundsätzlich synthetische Zugriff Hilberseimers auf die Leitbilder der Gartenstadt und der Bandstadt und ihren verschiedensten Ausprägungen anzuführen, aus dem heraus er eine eigenständige Position entwickelt. Vgl. Fehl und Rodriguez-Lores 1997, S. 26-27.

[29] „Die Natur“, so Irina Davidovici, „übernimmt die Aufgabe der Architektur als erste Stufe der Erfahrung (…).“ (Davidovici 2017, S. 282.) Mit Waldheim 2016 wäre statt von der Natur eher vom Landschaftsraum zu sprechen.

[30] Hilberseimer Papers. 8/1, 2.7 (zwischen den Seiten 105 und 106 eingelegt).

[31] Rutherford Platt (Sr.): Fotografie eines Zucker-Ahorns, erschienen im Magazin Life am 28. Juni 1943, S. 53. Vgl. Schwarzweißkopie von Rutherford Platts Fotografie eines Zucker-Ahorns, mögliche Druckvorlage mit Angaben zum Beschnitt. Hilberseimer Papers. 10/1, 9.29.

[32] Colman 2016, S. 127.

[33] Für den Preisvergleich s. Martínez 2015, S. 62.